Kräutler: „Bischof gehört unters Volk“

Alternativer Nobelpreis: Amazonas-Bischof Erwin Kräutler (71) spricht über seinen beispiellosen Kampf für die Menschen des Regenwaldes.

KURIER: Soll ich Sie mit Exzellenz ansprechen?
Erwin Kräutler: Um Himmels willen. Bitte nur Dom Erwin. In Brasilien sagt kein Mensch Exzellenz zu mir. Manchmal werde ich mit „oi Bispo“ – „Hallo Bischof“ angeredet. Auch im Evangelium oder der Bibel steht nichts von „Exzellenz“.

Wer hat Ihnen schon zur hohen Auszeichnung gratuliert?

Sicher Hunderte. Mein Mailaccount ist voll. Vom Bundespräsidenten über den Bundeskanzler: Alles, was Rang und Namen hat in Wien. Ich bin ganz dankbar. Heinz Fischer kenne ich persönlich, er war noch Klubobmann der SPÖ, als wir einander das erste Mal begegnet sind. Ich habe ihm auch mein Buch („Rot wie Blut die Blumen – Ein Bischof zwischen Leben und Tod“, Otto Müller Verlag, €18,00) signiert und persönlich überreicht.

Was war Ihr erster Gedanke?
Dass der Zeitpunkt dieser sehr wichtigen Würdigung einfach perfekt ist. Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem es so scheint, als würde dieser Mega-Staudamm gebaut, als würden die Menschen hier – nach einem 30 Jahre dauernden Kampf – vor vollendeten Tatsachen stehen. Aber das ist nicht einfach wahr. Der Preis gibt mir und uns allen Rückendeckung.

Sie haben sich als einer der größten Gegner des Mega-Staudammprojekts von Belo Monte, das 1000 Quadratkilometer Regenwald zerstören würde,
einen Namen gemacht. Warum ist Ihnen dieser Kampf so wichtig?

Ich bin nicht prinzipiell gegen Kraftwerke, sondern gegen die Art und Weise, wie rücksichtslos hier über die Menschen drübergefahren wird, wie 1000 Quadratkilometer Regenwald einfach zerstör werden sollen. Wie Indianerdörfern, die vom Fischfang leben, einfach das Wasser abgeschnitten werden soll. Ohne Wasser gibt’s auch keine Kanus mehr, diese Menschen können sich dann nicht mehr bewegen. Durch den mehr als 600 Quadratkilometer großen See, der entstehen soll, müssten an die 30.000 Menschen umgesiedelt werden und bis heute weiß man nicht, wohin.

Ihre Stimme ist jetzt viel lauter geworden.
Weil das unverantwortlich ist! Einen Drittel der Stadt Altamira unter Wasser zu setzen, den verbleibenden Einwohnern einen toten, faulen See als Brutstätte von allen möglichen Mückenplagen zu graben. Altamira ist voll von Dengel-Fieber, hier gibt’s Malaria, und das wird sich noch multiplizieren. Außerdem werden wir von der Regierung angelogen.

Was mutmaßen Sie?
Die Regierung spricht nur von einem einzigen Wasserkraftwerk. Aber das wäre finanziell ein völliger Unsinn. Mit einem einzigen Staudamm wird das Potential von 11.400 Megawatt nicht erreicht, es sei denn, der Xingu führte monatelang dieselben Wassermassen. Es gibt aber Monate im Jahr, da wird er ganz seicht. Also wird dieses Potential auf die Hälfte oder auf ein Fünftel fallen. Also werden sicher drei weitere Staudämme gebaut. Damit ist der ganze Fluss kaputt und andere Indianerdörfer am Flusslauf werden genauso überflutet. Das ist ein Dolchstoß ins Herz von Amazonien.

Wie sieht es in Ihrem Innern aus?
Ich spüre angesichts so vieler Ungerechtigkeit eine Ohnmacht. Ich bin empört über all die Ausbeutung und Plünderung der Menschen und ihrer Mit-Welt. Ein Indianer hat es so schön ausgedrückt: Wie könnten wir zulassen, dass die Gräber unserer Vorfahren überflutet werden? Und was wird einmal aus unseren Kindern, was hinterlassen wir ihnen? Er hat zurück und nach vorne geschaut.

Was richtet der Alternative Nobelpreis dagegen aus?

Oh, sehr viel! Dadurch habe ich eine internationale Rückendeckung einer honorierten Foundation bekommen. Dadurch wird mein Anliegen weltweit bekannt. A esperanca é a última que morre“ – die Hoffnung stirbt als Letztes.

Jubeln die Indianer?

Die Indianer wissen das in der Zwischenzeit natürlich schon. Wir freuen uns alle, ganz klar.

Dom Erwin, zu Ihrer Diözese zählen 500.000 Menschen. Wie muss man sich das vorstellen, wo fängt man da an und wo hört man auf?
Ich bin kein Schreibtischbischof, hier in meinem Hauptsitz bin ich vielleicht alles zusammen drei Monate pro Jahr. Ich bin immer unterwegs, mit dem pilgernden Volk Gottes. Am unteren Xingu mit dem Schiffchen, denn die Pfarren in dieser Region sind nur übers Wasser erreichbar. Oder mit dem Jeep auf der Transamazonica. An den Oberlauf des Xingu fliege ich und dann geht’s wieder in den Busch, oder eben, was einmal Busch war, denn in diesem Gebiet ist die Zerstörung des tropischen Regenwaldes schon sehr weit fortgeschritten.

Was passiert, wenn Sie dort erscheinen?

Die Leute empfangen mich herzlich, umarmen mich und sind glücklich. Das ist das Schönste, was ein Bischof erleben kann. Das Zusammenkommen mit dem Volk. Ich kenne die Leute, sie kennen mich. Jedes Jahr bin ich in jeder Pfarre, wobei eine Pfarre hier etwas anderes ist als in Europa, nämlich die Summe von 30 bis 100 Gemeinden. Immer wenn ich in eine Pfarre komme, wird entschieden, in welche Gemeinden ich gehe. Dann kommen alle Menschen mit ihren Schiffchen oder per Lastwagen oder auch zu Fuß in jene Gemeinde, die ausgewählt worden ist für den Bischof. Da gibt es dann Versammlungen, Eucharistiefeier, meistens auch Firmung. Die Leute bereiten das alles vor.

Würden Sie das auch den österreichischen Bischöfen empfehlen?

Also ich kann’s mir gar nicht anders vorstellen, als im engsten Kontakt mit den Leuten zu sein. Ein Bischof gehört unters Volk, er soll für das Volk da sein, mit diesen Menschen leiden, glauben, hoffen und lieben. In Europa ist das alles anders. Mir ist es lieber so, wie es in Brasilien ist.

Sagt Ihnen öfter wer, dass Sie lachende Augen haben?
Ja, habe ich schon einmal gehört. Ich bin in meinem Beruf sehr glücklich …Noch keinen einzigen Augenblick in meinem Leben habe ich bereut, dass ich diesen Weg gegangen bin.

Was war der dunkelste Moment Ihrer Laufbahn?
Als Mitschwester Dorothy, die unendlich bescheiden war, die sich für sich absolut nichts gewünscht und die Armut der Landarbeiter bis ins Extrem geteilt hat, mit sechs Schüssen hingerichtet wurde. Sie hat ihr Blut vergossen für den Traum, dass es den Menschen hier einmal besser geht. Ich stand als Bischof an ihrem Sarg und feierte mit dem Volk den Gottesdienst vor der Beerdigung. In diesem Moment kam mir der Gedanke, dass wir den Weg weitergehen müssen, dass wir uns nicht einschüchtern lassen dürfen.

Woher kommt der Mut, die Kraft?
Ich bin Christ, ich bin Priester und Bischof, dem Evangelium verpflichtet. Deshalb muss ich so handeln.

Wann wurde Ihnen das zum ersten Mal richtig bewusst?
Als ich mit 41 Jahren zum Bischof von Xingu ernannt wurde, gab es eine Versammlung mit Bischöfen, Priestern, Ordenleuten und Laien. Und diese Laien haben mir damals unmissverständlich gesagt, sie wollen einen Bischof, der zu ihnen kommt, der am eigenen Leib das erlebt, was sie erleben. Da wurde mir klar, dass ich ein Diener des Volkes Gottes bin.

Auch Sie selbst werden immer wieder mit Mord bedroht. Haben Sie keine Angst?
Ich stehe seit 2006, unter Polizeischutz. Deswegen Ich kann aber nicht mit dauernder Angst leben, das wäre Wahnsinn. Da würde ich depressiv. Ich vertraue dem lieben Gott, dass er mir die Kraft und den Mut, auch die nötige Energie gibt, meinen Weg weiterzugehen. Und dass er mich beschützt. Der Preis erhöht meinen Schutz.

So unter dem Motto: Jemanden, der international bekannt ist, bringt man nicht so leicht um?
Ja, so ungefähr. – Lacht.

Arbeiten Sie schon an Ihrer Rede bei der Verleihung des Preises in Stockholm?

Ich hab‘ noch nicht angefangen. Aber ich hab‘ schon alles im Kopf. Das Kraftwerk ist eines der Themen, diese große Gefahr, die über Amazonien schwebt. Es wird aber auch um Menschenrechte gehen, um die die indigene Bevölkerung und ihre Rechte, Menschen, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden.

Was ist die Wurzel dieser ungerechten Welt?
Die Tragödie ist, dass sich in der neoliberalen freien Marktwirtschaft alles nur um Profit dreht. Die Regierung setzt auf großangelegte Plantagen und Agrobusiness, die Menschen werden vom Land vertrieben und siedeln sich in Städten an: Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. In Brasilien hat nicht die Regierung das Sagen, sondern die Wirtschaftsbosse. So wie in ganz vielen Ländern. Jean Ziegler beschreibt das in seinen Büchern sehr drastisch.

Also sehen Sie einen Zusammenhang zwischen der Globalisierung und der Lage der indianischen Völker im amazonischen Regenwald?
Natürlich. Weil alles und jedes sich den Gesetzen der freien Marktwirtschaft unterordnen muss. Bis ins letzte kleine Dorf hinein muss der Neoliberalismus gehen und Profit machen. Da komme ich nicht mit. Das ist die große Geißel des dritten Jahrtausends. Die unumstößliche, unanfechtbare Größe des Geldes und der Gier. Ihr ist alles unterzuordnen, die Erde, die Mitwelt, die Menschen.

Was hat Ihre Arbeit in Amazonien mit den Entwicklungen in Europa zu tun?
Heute sind wir alle vernetzt mit der ganzen Welt. Kein Gebiet auf dieser Erde ist eine Insel der Seligen oder etwas von der Welt Abgehobenes. Und wenn in Stuttgart gerade Zigtausende Menschen gegen die Rodung ihres Parkes demonstrieren, dann ist es dieselbe Verantwortung, die Menschen tragen Wir haben diese Welt, die wir bewohnen, von den Vorfahren geerbt, wir sind verantwortlich dafür, dass unsere Kinder und Kindeskinder immer noch würdig leben können. Wenn diese Mitwelt – ich sage nicht Umwelt – nicht erhalten bleibt, dann gibt es uns Menschen nämlich auch nicht mehr.

Sie sind heute 71. Mit 75 haben Sie das kanonische Alter für die Abdankung von Bischöfen erreicht. Was kommt dann?
Dann muss ich beim Papst den Rücktritt einreichen, mein Amt zur Verfügung stellen. Dann wird ein Neuer ernannt. Das kann zwei, drei Jahre dauern.

Werden Sie in Brasilien bleiben?

Das habe ich noch gar nicht richtig überlegt…

Zurück nach Vorarlberg, wäre das eine Option?

Ich habe in meiner Heimat Koblach noch immer das Elternhaus – meine Mutter und mein Vater sind beide 2004 gestorben. Auch mein Bruder Josef und meine Schwägerin Ursula leben in Koblach. Ja, auch das wäre eine Option.

Wie sind Sie eigentlich vor mehr als 40 Jahren nach Brasilien gekommen?
Wahrscheinlich, weil auch zwei meiner Onkel in den Dreißigerjahren nach Brasilien ausgewandert waren. Unsere Kongregation hat dieses Gebiet in den 20er Jahren übernommen. Da habe ich zu meinen Ordensoberen gesagt, da will ich hin – damals hat’s in Österreich ja noch keinen Priestermangel gegeben. Heute bin ich auch brasilianischer Staatsbürger und die Leute hören keinen Akzent – mit 26 lernt man eine Sprache noch sehr schnell.

Wurde Ihnen Ihr Kampf für die Indios nie zu schwer?
„Man kann nicht Gott und dem Teufel gleichzeitig eine Kerze anzünden“, sagt ein brasilianisches Sprichwort. Angesichts der vielen Gefahren, die auf die Indios hereinbrechen, kann ich nicht schweigen und tatenlos bleiben. Ich muss auf den Schrei meines Volkes hören.