Missbrauchsgutachten für das Erzbistum München-Freising stellt schlechtes Zeugnis aus

Ein unabhängiges Gutachten zum Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche in Deutschland hat am Donnerstagvormittag, 20.01.2022, dem Erzbistum München und Freising ein schlechtes Zeugnis ausgestellt. Auch der emeritierte Papst Benedikt XVI. wurde schwer belastet. Auf youtube kann die gesamte Pressekonferenz nachgeschaut werden. Kathpress hat eine gute Zusammenfassung der Pressekonferenz verfasst.

Das am Donnerstag vorgestellte Münchner Missbrauchsgutachten belastet den emeritierten Papst Benedikt XVI./Joseph Ratzinger, Kardinal Reinhard Marx, Kardinal Friedrich Wetter und weitere Verantwortungsträger. Die Anwälte werfen Benedikt in vier Fällen während seiner Amtszeit als Erzbischof von München und Freising (1977-1982) Fehlverhalten vor. Marx wird Fehlverhalten in zwei, Wetter in 21 Fällen vorgeworfen. Rechtsanwalt Martin Pusch wies zugleich darauf hin, dass das emeritierte Kirchenoberhaupt in einer persönlichen Stellungnahme seine Verantwortung in allen Fällen zurückgewiesen habe. Seine Stellungnahme ist mit seiner Einwilligung mit dem Gutachten veröffentlicht worden. Die Untersuchung sieht 235 mutmaßliche Täter und 497 Betroffene in der Zeit von 1945 – 2019.

Am 24.01.2022 korrigiert Joseph Ratzinger seine Aussage bzgl. Teilnahme an der Ordinariatssitzung: Entgegen seiner bisherigen Darstellung habe er doch an der Ordinariatssitzung am 15. Januar 1980 teilgenommen, heißt es in einer Stellungnahme gegenüber der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Der Fehler sei aber „nicht aus böser Absicht heraus geschehen“, sondern „Folge eines Versehens bei der redaktionellen Bearbeitung seiner Stellungnahme“. Dies tue ihm „sehr leid“, und er bitte, dies zu entschuldigen.

Rund drei Wochen nach der Veröffentlichung des Münchner Missbrauchsgutachten und der Kritik am früheren Papst Benedikt XVI. hat dieser nun in einem Brief datiert mit 06.02.2022 um Entschuldigung gebeten. Vorwürfe, er habe Missbrauch vertuscht, weisen seine Anwälte aber neuerlich zurück. Sein Brief sorgt bei Betroffenen für Empörung. Verantwortung wird nach wie vor nicht übernommen. Auch der Jesuit Hans Zollner kritisiert den Ex-Papst. In Italien jedoch werde sein Brief als beeindruckendes Schuldbekenntnis gelesen. Ausführlich berichtet „Neues Ruhrwort“ dazu. Georg Löwisch von der „Zeit“ hinterfragt sehr detailiert diesen Brief von Joseph Ratzinger. Interessant ist, dass bisher noch niemand das Faktum einer „Psychotherapie“ in den 80er-Jahren hinterfragt bzw. sich die Frage stellt: Aus welchem Grund schickte in den 1980er-Jahren die röm.-kath. Kirche bzw. deren Verantwortliche einen Priester zu einer Psychotherapie? Das war doch zur damaligen Zeit höchst ungewöhnlich, noch dazu als röm.-kath. Kirche. Und da fragte selbst ein Erzbischof von München (in dieser Sitzung) nicht nach, weshalb dieser Priester eine Psychotherapie machen muss? Auch auf religion.orf.at gibt es eine aktuelle Zusammenfassung bzgl. des Briefes von Benedikt XVI.

Im Auftrag von Papst Johannes Paul II. («Motu proprio» vom 30.04.2001) erliess Kardinal Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation im Mai 2001 eine Instruktion an alle Bischöfe der Welt, wie bei Straftaten von Klerikern gegen das sechste Gebot mit noch nicht 18-jährigen Jugendlichen zu verfahren sei. Alois Riklin meint dazu: Die Vertuschung von Missbrauch war von höchster kirchlicher Stelle angeordnet.

Die „Zeit“ informiert auch umfassend über das Missbrauchs-Gutachten. Der ehemalige Justizminister Christian Pfeiffer kritisiert die katholischen Bischöfe: Unter Führung von Kardinal Marx sei eine ehrliche Aufklärung des Missbrauchs unterblieben.

Nach der Veröffentlichung des Gutachtens forderte der Experte Pater Hans Zollner ein Zeichen von Benedikt XVI. „Jetzt muss etwas vom emeritierten Papst Benedikt XVI. kommen. Er muss noch mal darauf reagieren“, sagte der Missbrauchsexperte der Deutschen Presse-Agentur am Donnerstag in Rom. Zollner ist Mitglied der 2014 eingerichteten Päpstlichen Kommission für den Schutz von Minderjährigen und fungiert damit als externer Berater für den Vatikan. Pater Hans Zollner, der Leiter des Safeguarding-Instituts in Rom, bewertet in einem weiteren Interview insbesondere die Erklärung von Benedikt XVI. für das Münchner Missbrauchsgutachten. Außerdem formuliert er seine Erwartungen an die Verantwortlichen.

Der Kinderschutz-Experte Hans Zollner fordert konsequente Rücktritte im Missbrauchsskandal der katholischen Kirche. Bischöfe würden sich oft nur als kleines Rad darstellen. Stattdessen sollten sie dem Papst sagen, dass sie nicht mehr können und wollen.

Mittlerweile gibt es auch von Kardinal Marx eine erste Stellungnahme zur heutigen Pressekonferenz. Am Donnerstag, 27.01.2022, gab es eine ausführliche Pressekonferenz von Kardinal Marx. Der Münchner Erzbischof Reinhard Marx will zumindest vorerst im Amt bleiben: „Ich klebe nicht an meinem Amt“, betonte er allerdings am Donnerstag. „Das Angebot des Amtsverzichts im letzten Jahr war sehr ernst gemeint. Papst Franziskus hat anders entschieden.“ Bei den Opfern bittet er um Entschuldigung. Marx bat erneut „persönlich und auch im Namen des Erzbistums“ die Betroffenen um Entschuldigung. Eine weitere solche Bitte richtete er an die Gläubigen, „die an der Kirche zweifeln, die den Verantwortlichen nicht mehr vertrauen können und in ihrem Glauben Schaden genommen haben. Auch die Pfarrgemeinden, in denen Täter eingesetzt wurden, haben wir zu lange nicht ausreichend im Blick gehabt und sie einbezogen.“ Auch religion.orf.at berichtet darüber ausführlich.

Der emeritierte Münchner Kardinal Friedrich Wetter (93) hat eine persönliche Verantwortung für Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche übernommen. In einer am Dienstag veröffentlichten Stellungnahme zum Münchner Missbrauchsgutachten räumte er ein, sich vor dem Jahr 2010 nicht eingehend mit den fatalen und zerstörerischen Folgen von Missbrauchstaten für Kinder und Jugendliche auseinandergesetzt zu haben. Der frühere Erzbischof von München und Freising, Kardinal Friedrich Wetter (93), gibt die Ehrenbürgerschaft seiner pfälzischen Heimatstadt Landau zurück. Er wolle nicht, „dass durch die Auseinandersetzungen um meine Person der Friede der Stadt gestört wird“, wurde Wetter am Mittwoch auf der Homepage der Kommune zitiert.

Nach dem Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche überlässt Priester Wolfgang Rothe im Gottesdienst den Gemeindemitgliedern das Wort. Sie werden dabei recht deutlich.

Hier kann man das gesamte Gutachten lesen.

Die Theologin Doris Reisinger mahnt einen höchst überfälligen Systemwechsel in unserer Kirche ein.

Das neue Gutachten zur Aufarbeitung von Missbrauchsfällen im Erzbistum München mache eines deutlich: Kinder seien weniger wert als Kleriker, kommentiert Christiane Florin. Der frühere Papst Benedikt etwa habe bis heute nicht verstanden, was sexualisierte Gewalt mit Kindern mache.

Das Ausmaß sexuellen Missbrauchs von Kindern durch Geistliche im Erzbistum München-Freising macht sprachlos. Wieder einmal. Und wieder einmal äußert ein Bischof seine Erschütterung. Zu Recht. Kaum weniger erschütternd ist das Verhalten der Verantwortlichen – nicht zuletzt von Benedikt XVI. Ein Kommentar von Chefredakteur Markus Nolte (Kirche und Leben).

Erschüttert über das Verhalten Benedikt XVI. zum Münchner Missbrauchs-Gutachten hat sich der Essener Generalvikar Klaus Pfeffer am Freitagmorgen im WDR-Hörfunk: „Mir stockte der Atem darüber, wie sich Verantwortungsträger der damaligen Zeit heute immer noch nicht der Verantwortung stellen, sondern signalisieren: Ich war nicht dabei, ich wusste es nicht. Das war ein jämmerliches Bild und ist für den ehemaligen Papst Benedikt furchtbar.“

Der Sprecher der Betroffeneninitiative Eckiger Tisch, Matthias Katsch, sagte im Südwestrundfunk, um die Vergangenheit in der katholischen Kirche aufzuarbeiten, sei nun ein Blick von außen nötig. Das könne jedoch nur in einer unabhängigen Aufarbeitung geschehen, die von staatlicher Seite garantiert, unterstützt und begleitet werde.

Als „blanken Unsinn“ hat der emeritierte Wiener Theologe Paul Michael Zulehner die Einschätzung von Benedikt XVI./Joseph Ratzinger bezeichnet, die Entblößung des Geschlechtsteils vor minderjährigen Mädchen sei kein Missbrauch im eigentlichen Sinn, weil die Kinder nicht berührt worden seien. Im ORF sagte Zulehner am Donnerstagabend, solche Unterscheidungen würden den Taten nicht gerecht, die „moralisch schwerwiegend und kriminell“ seien.

„Die Kirche gibt Millionen aus, um Missbrauchsgutachten zu erstellen. Doch Kardinäle und sogar der emeritierte Papst weigern sich, ihr Tun und Lassen mit den Augen der Opfer zu betrachten. Das ist der eigentliche Skandal“, schreibt Daniel Deckers in der FAZ.

Opferschutzanwältin für Fälle in Österreich, Waltraud Klasnic, kritisiert nach Gutachten Verantwortliche in der Erzdiözese München: Statt auf Opfer zuzugehen „wurde viele Jahre hindurch vertuscht“ – Kirche in Österreich reagierte früher und angemessener als in anderen Länder.

Ex-Verwaltungschef nimmt Stellung zum Missbrauchsgutachten. Beer: Aufgabe als Münchner Generalvikar hat mich krank gemacht: „Was ich selber erlebt habe und was man befürchtete, das ist jetzt objektiv dokumentiert“: Ex-Generalvikar Peter Beer äußert sich zum Münchner Gutachten – aber auch dazu, warum er seine einstige Aufgabe in München nicht mehr wahrnehmen konnte.