Morgengedanken 29.05.2022 – 04.06.2022

Morgengedanken: „Der christliche Gott – ein Gott, der erfahrbar ist?“

Sonntag, 29. Mai 2022:

„Gibt es Gott?“

Gibt es Gott, oder gibt es ihn nicht? Ich wage zu behaupten, dass diese Frage nach wie vor viele Menschen beschäftigt. Zwar fällt es uns als röm.-kath. Kirche immer schwerer, eine verständliche Antwort darauf zu geben, dennoch gehört diese Frage zum Menschsein dazu. Für mich tun sich damit verbunden noch mehr Fragen auf: Wenn es ihn für mich gibt, wie stehe ich zu ihm? Ist er mir gleichgültig? Oder ist er für mich ein unpersönliches, höheres Wesen? Oder ist Gott wie ein Freund zu mir?

Im Grunde genommen setzt sich die ganze Heilige Schrift mit dieser Ur-Frage des Menschen nach der Existenz Gottes auseinander. Und die Bibel versucht auf diese Fragen zu antworten: Immer wieder, über Jahrhunderte hindurch haben verschiedenste Menschen ihre konkreten Erfahrungen gemacht mit Gott, sind ihm begegnet, haben ihn gespürt in dieser oder jener Lebenssituation, oft auch in Krisenzeiten, und haben aufgrund dieser Erfahrungen erkannt – so wie es auch ich in meinem Leben gespürt habe: Ja, es gibt ihn, diesen Gott. Und er ist einer, der mir beisteht und mir Kraft schenkt, mein Leben gut und mit viel Lebensfreude zu gestalten.

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Montag, 30. Mai 2022:

Gott wird erfahrbar – in der Gemeinschaft

Auch in unseren Tagen ist es nach wie vor üblich, dass die meisten Eltern ihre Kinder taufen lassen. Sie treffen damit eine Vorentscheidung für ihr Kind, weil sie davon überzeugt sind, es gibt Gott. Bei mir war es die Vorbereitung auf die Firmung, bei der ich kein Außenseiter sein wollte und mitmachte, weil das halt dazugehörte. Meinem damaligen Pfarrer und der Pfarrgemeinde gelang es in den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts gut, mich zu motivieren, dass ich mich aktiv in das Pfarrleben einbrachte. Ich begann Orgel zu spielen und war auch in einer Gruppe Jugendlicher mit dabei, die gemeinsam den Mesnerdienst in der Pfarre übernahm.

Glaube war also bei mir weniger eine Frage meiner Entscheidung, als vielmehr das Sammeln von unzähligen Erfahrungen, die mich spüren ließen: Gott ist einer, der für mich da sein möchte, der wie ein Liebhaber um seine Geliebte wirbt. Gott wurde und wird für mich persönlich erfahrbar vor allem im Miteinander der Pfarrgemeinde. Glaube braucht für mich also vor allem auch die Gemeinschaft, damit ich Gott finde und entdecke in meinem Leben.

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Dienstag, 31. Mai 2022:

Mystiker*in – eine*r, die/der etwas erfahren hat

Sagt Ihnen der Begriff Mysteriker*in etwas? Eine Mystikerin/ein Mystiker, das sind Menschen, die in ihrem Leben die göttliche Wirklichkeit hautnah erfahren möchten. Christliche Mystik klammert sich nicht an unveränderbare Dogmen und Lehren fest, sondern versucht, in allem, was im alltäglichen Leben passiert, Gottes heilige Gegenwart zu ertasten.

Karl Rahner, einer der bedeutendsten katholischen Theologen im 20. Jahrhundert, schrieb bereits 1966 den seither viel zitierten Satz: „Der Fromme von morgen wird ein Mystiker sein, einer der etwas erfahren hat, oder er wird nicht mehr sein.“ Ob nicht genau dieser Satz der Weg unserer Kirche in die Zukunft sein könnte? Den Menschen dabei zu helfen, dass sie auch im Hier und Heute Gott erfahren können?

Gott spricht zu mir durch andere Menschen, durch Gebet, durch das Meditieren der Bibel. Gott lässt sich für mich erfahren in der Musik oder in der Natur, wenn ich durch den Wald spaziere oder rauf auf einen Berg wandere, um dort die atemberaubende Aussicht zu genießen. Gott kann ich spüren im Gottesdienst und in der Liebe, die dem anderen Gutes tut… Ich muss Gott erfahren können, ich glaube, danach sehnen sich die Menschen, damals wie heute.

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Mittwoch, 01. Juni 2022:

Mystiker*in – in der Bibel

Die Bibel ist voll von Geschichten über Mystiker*innen, von Menschen, die Gott begegnen. Schon wenn ich das 1. Buch der Bibel aufschlage, das Buch Genesis, lese ich von Adam und Eva, die Gott erfahren in ihrem Leben, ganz persönlich. Oder die großen Gestalten in der Geschichte des Volkes Israel, z. B. Mose oder König David oder der Prophet Elija. Sie alle machten ihre persönlichen Gottes-Erfahrungen.

Im Neuen Testament sind es die Jünger*innen von Jesus, die in ihm Gott entdecken. Petrus sagt es ganz klar in seinem Bekenntnis zu Jesus: „Herr, zu wem sollen wir gehen? Welche Richtung sollen wir schon einschlagen? Du hast Worte ewigen Lebens. Deine Worte sind der Kompass auf unserem Weg!“ (vgl. Joh 6,68).  Jesus selbst bringt es auf den Punkt: „Wer mich sieht, sieht den Vater!“ (Joh 14,9).

Die Bibel ist für mich ein Buch, das mir aufzeigt: Von Anfang der Menschheitsgeschichte an geht es darum, offen zu sein für Gotteserfahrungen, offen zu sein dafür, dass Gott auch in meinem Leben da sein möchte.

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Donnerstag, 02. Juni 2022:

Gott wird erfahrbar – durch uns Menschen

Es gibt Situationen und Ereignisse im Leben von uns Menschen, in denen Dinge, die scheinbar total verfahren waren, dann aber doch noch einen glücklichen Ausgang genommen haben. Manchmal gelingt einem der Ausweg aus einer solchen Situation ganz allein, sehr oft allerdings braucht es Anstöße von außen durch andere Menschen: Menschen, die dabei helfen, verschlossene Türen zu öffnen und neue Wege zu entdecken, Menschen, die wieder Orientierung geben und andere Lebensperspektiven aufzeigen, Menschen, die mir Mut machen, meinen Tunnelblick wieder zu weiten. Ja, Menschen können wie ein Geschenk des Himmels sein.

„Ein Geschenk des Himmels“, das war für das Volk Israel der König Kyrus. Das können wir im 45. Kapitel des Jesajabuches nachlesen. König Kyrus erlaubte es, dass die Verschleppten im Exil in Babylon wieder zurück nach Jerusalem durften (vgl. Jes 45,1). Gott beauftragt den fremden Herrscher, der JHWH noch nicht einmal kennt, dem jüdischen Volk die Heimkehr aus dem Exil zu ermöglichen. Für das Volk Israel wird Gott selber darin erfahrbar. Gott handelt an seinem Volk durch und mit Menschen, unerwartet und überraschend. Gott wird erfahrbar durch Menschen, sagt mir die Bibel.

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Freitag, 03. Juni 2022:

Gott wird erfahrbar – auch in meinem Leben?

Von König Kyrus habe ich gestern erzählt. Das jüdische Volk erfuhr im Handeln des Königs Kyrus das Handeln Gottes. Diese Geschichte ist nicht die einzige, die ich in der Bibel finde, in der mir erzählt wird, wie Gott – gerade auch in schwierigen Lebenssituationen – erfahrbar wird durch Menschen, die anderen beistanden und für sie da waren.

Solche Geschichten in der Bibel motivieren mich, mich auf eine Spurensuche im eigenen Leben zu machen und mir folgende Fragen zu stellen: An welche Ereignisse und Situationen in meinem Leben erinnere ich mich, die scheinbar ausweglos schienen und in denen sich dann doch unerwartet und überraschend Auswege eröffnet haben? Und wer waren die Menschen, denen ich in dieser Zeit begegnet bin, die an meiner Seite waren – erwartet oder unerwartet – und die ich als „ein Geschenk des Himmels“ empfunden habe?

Ja, ich habe es in meinem eigenen Leben immer wieder erfahren dürfen, dass Gott mit und durch andere Menschen handelt, mir beisteht, mir hilft, mich wieder aufrichtet: Ja, das war jetzt wie „ein Geschenk des Himmels“. So erlebte und erlebe ich immer wieder: Gott ist da in meinem Leben.

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Samstag, 04. Juni 2022:

Und das Wichtigste im Glauben?

Worauf kommt es an im Leben? Manche antworten darauf womöglich spontan mit: „Gesundheit“ oder „Zufriedenheit“. Die Frage ist aber m. E. gar nicht so einfach zu beantworten: „Dass du deinen Weg findest“, könnte ich z. B. antworten. „Dass ich jeden Tag mit gutem Gewissen in den Spiegel schauen kann“, oder „Dass ich glücklich bin“, wären weitere Antworten von mir.

Auch das Christentum hat auf diese Frage eine Antwort: Es kommt vor allem darauf an, der Liebe zu folgen, diesem Urwunder des Lebens, das Gott selber ist. Die Bibel sagt: „Gott ist Liebe“ (1 Joh 4,8). Diesem Gott Raum zu geben in meinem Leben, diesen Gott wirken zu lassen durch mich und damit der Liebe Raum zu geben, dazu sind Christ*innen berufen, behaupte ich.

Ja, ich möchte meinen Weg finden. Ja, ich möchte jeden Tag in den Spiegel schauen können. Ja, ich möchte glücklich leben. Ja, ich möchte ein zufriedener Mensch sein, der gesund ist. All das ist aber nicht das Wichtigste in meinem Leben. Ich möchte die Liebe leben, ganz gewöhnlich und alltäglich; darauf kommt es an. Und darin erfahre ich Gott.

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