4. Fastensonntag

Predigt zu Gen 16,1-13

Seit meiner Kindheit war ich beeindruckt von den dichterischen Bildern und Geschichten unserer Heiligen Schrift. Der Versuch, Gott in Bilder zu fassen, stellt uns aber vor ein Dilemma. Was für Kinder in den Geschichten der Bibel noch faszinierend, greifbar und verständlich erscheint, entgleitet uns in zunehmendem Alter und wir erfahren Gott als unfassbar und unbeschreibbar. Wir können nur erahnen, dass Gott viel mehr und ganz anders ist, als wir Menschen ihn uns mit unseren begrenzten Möglichkeiten vorstellen können. Hinter diesen biblischen Geschichten und Bildern, die wir heute in der Lesung und im Evangelium gehört haben, stehen wertvolle Gotteserfahrungen der Menschen.

Bis heute berühren mich jene Geschichten von Frauen in der Bibel, die entrechtet waren und in der Gesellschaft trotz ihrer Talente kein Ansehen genießen durften. In ihren schwierigen Situation fanden sie immer wieder die Kraft und den Mut, von Neuem anzufangen oder ihre Situation zu ertragen. Ihr Glaube half ihnen dabei, am Leben nicht zu verzagen.

Eine davon, die mich immer wieder beindruckt, ist Hagar, die ägyptische Sklavin von Sarai. Sie ist in ihrem Schmerz und in ihrer Ohnmacht ihrer Herrin weggelaufen ist. Gedemütigt, entrechtet und entwürdigt erfährt sie in der Wüste die heilende Rettung. Sie ist die erste Person der Bibel, die von einem Gottesboten aufgesucht wird. Erstmals spricht sie jemand mit ihrem Namen an und fragt sie nach ihrer Herkunft und dem Ziel ihrer Reise. Hagar erlebt eine Veränderung, weil sie von Gott angesehen wird. Sie kennt diesen Gott nicht persönlich, weiß auch nicht seinen Namen. Sie erfährt aber, dass dieser Gott sie auch in Zukunft sehen wird und somit bekommt ihr Leben eine Bedeutung. Der Engel prophezeit ihr, dass Gott aus ihrem Sohn Ismael ein großes Volk machen wird. Weil sie tief in ihrem Herzen erlebt, dass Gott sie und ihren ungeborenen Sohn sieht und einen Plan für sie hat, erhebt sie auch keinen Einspruch auf die Antwort des Engels: „Kehre wieder um zu deiner Herrin und demütige dich unter ihrer Hand.“ (Gen 16,9).

Hagars Situation stimmt mich immer wieder traurig. Sie war damals kein Einzelfall und ist es heute leider auch nicht. Was mich so beeindruckt und überrascht, ist ihr Verhalten. Sie kehrt zu ihrer Herrin zurück. Es zeigt uns, dass sie keine Veränderung der äußeren Umstände braucht, sondern eine innere Aufrichtung und Heilung ihrer Selbst. Dies gab Hagar Kraft, in ihre unveränderte und unterdrückende Situation zurückzukehren. Sie wusste nun: Gott sieht sie! Sie erfährt Gott als einen, der in ihrem Leid auf sie hört und sich ihr – entgegen ihrer sozialen Stellung in der Welt – nicht abwertend, sondern fürsorglich zuwendet. Gottes Blick macht sie nicht klein, sondern richtet sie auf. Diese Erfahrung, die sie in der Wüste gemacht hat, veränderte alles für sie. Wahrscheinlich hat sie Sarah weiter gedemütigt, aber das Neue war, dass sie sich selbst innerlich nicht mehr als Sklavin sah, sondern als eine von Gott Gesehene.

Gottes souveränes Handeln zeigt sich auf beeindruckende Art und Weise in den verworrensten gesellschaftlichen Situationen. Schließlich wird es in der besonderen Sprache und Zuwendung Jesu zu den Menschen greifbarer.

Ich glaube, die Zusage Gottes an Hagar „Gott sieht mich“ soll Vertrauen in uns pflanzen, denn Gott kennt mich durch und durch bis in meine tiefsten Tiefen und lehnt mich dennoch nicht ab. Er sieht mich, wie ich bin. Gottes Sehen ist nicht an Zeit und Raum gebunden. Er hat mich schon gesehen, als ich noch gar nicht geboren war. Er sieht meine Situation, in der ich lebe, meine Tränen, meine Gedanken, meine Freude, mein Herz, meine Gefühle, meine Gesten, mein Heute und mein Morgen. Das ist eigentlich nicht zu begreifen, aber es sind die Erfahrungen, die Menschen seit fast über 4000 Jahren mit Gott gemacht haben. Und ich bin als eine von Gott Gesehene ein Teil davon.

 

Fürbitten:

Gott, der mich sieht, seit jeher berichten Menschen von deiner heilenden Nähe, die wir auch heute noch in den Geschichten der Heiligen Schrift als tröstend und erhellend hören und erfahren dürfen.

Wir bitten dich: Lass alle Menschen die Erfahrung machen, dass sie wie Hagar ein Lieblingskind Gottes sind. Als von Gott Angesehene öffne uns für seine ungeteilte Liebe.

Wir bitten dich: Oft stehen wir unter den Blicken von Menschen oder Systemen, denen wir nacheifern. Jesus lebte einzig und allein unter dem Blick Gottes. Lass in uns das Vertrauen wachsen, uns unter Gottes Blick zu stellen.

Wir bitten dich: Öffne unser Herz, damit auch wir die Menschen so sehen, wie sie wirklich sind und ihnen im Geiste der Mitmenschlichkeit begegnen können.

Wir bitten dich: Öffne unsere Augen, damit wir dort hinschauen, wo Not, Schmerz und Sorgen unsere Mitmenschen quält. Lass uns die notwendigen Mittel finden, um ihr Leid zu mindern.

Du sprichst uns tagtäglich an und zeigst deine unfassbare Weite und Größe im Wort der Schrift. Durch Jesu hast du zu uns in der Sprache der Liebe gesprochen, damals, jetzt und in Ewigkeit. Amen.

 

Meditation:

Sich von Gott anschauen lassen
Echt werden vor Gott
Unter Gottes Blick leben
bedeutet
Du bist …
… von Gott geschaffen
… von Ewigkeit her geliebt
… kostbar und wertvoll
… sein Lieblingskind
… bei deinem Namen gerufen
… gezeichnet in seine Handflächen
… erwählt, heilig und geliebt
… ein Wohlgeruch für Gott
… ein Freund Gottes
Unter seinem Blick leben
heißt, zu entdecken,
wie Gott mich sieht.

(c) Petra Trauner-Gkratsanlis